Was Scham in Organisationen bewirkt

Scham ist die Emotion der sozialen Kontrolle. Sie verhindert, dass Menschen aus der Rolle fallen und stabilisiert damit Strukturen. Doch sie erdrückt freien Ausdruck und kreatives Zusammenarbeiten. Kein anderes Gefühl bestimmt so stark, wie Organisationen sich entwickeln.

Einleitung

Bei meinem ersten größeren Beratungsauftrag war ich (Elmar) 28 Jahre alt – und sah aus wie 18. Die Führungskräfte, die da vor mir im Sesselkreis saßen und mich irgendwo zwischen erwartungsvoll und skeptisch anblickten, waren durchwegs älter als ich. Als mich einer fragte, wie lange ich das schon mache, wurde mein Mund trocken, mein Hals fühlte sich eng an, mein Blick senkte sich und ich glaube, ich hatte tatsächlich Schweiß auf der Stirn.

Oh Gott, ist das lange her!

Das Gefühl dazu war Scham. Die Scham-Forscherin und TED-Star Brene Brown definiert Scham als die Angst davor, dass es da irgendetwas an mir gibt, wegen dem ich es nicht wert bin, dazuzugehören. Bei mir damals: zu jung, noch jünger aussehend, zu unerfahren, zu unsicher – in dem Moment ging mir eine ganze Liste dieser Dinge durch den Kopf.

Es ist also ein persönliches Thema. Eines das jede und jeder von uns kennt. Und es ist ein wichtiges Thema für alle die in und um Organisationen tätig sind. Als Führungskräfte, als Kolleginnen, als Kunden und als Berater. Darum – ich warne gleich – ist es ein längerer Artikel geworden.

Definition

Shame is really easily understood as the fear of disconnection: Is there something about me that, if other people know it or see it, that I won't be worthy of connection?

Brene Brown in ihrem TED Talk „The Power of Vulnerability"

Eine superkurze Geschichte der Scham

Scham ist ein Gefühl, das wirklich niemand erfahren will und doch kennen wir es alle. Man könnte sagen, es ist so etwas wie eine kulturelle Universalie. Es gibt keine menschliche Kultur auf dem Planeten, in der es Scham nicht gäbe. Empfindet eine Person überhaupt keine Scham, so ist die Chance groß, dass sie als krimineller Soziopath im Gefängnis sitzt. Scham kann allerdings von sehr unterschiedlichen Dingen ausgelöst werden. In der einen Kultur ist Rülpsen ein Fauxpas, in der anderen machst du dich unbeliebt, wenn du dem Gastgeber nicht dein Wohlgefallen mitteilst, in dem du geräuschvoll Gase entweichen lässt. Auch im Wandel der Zeiten ändern sich hier die Standards.

Ursprünglich diente die Scham wohl dazu, in Gruppen von Jägern und Sammlern zu signalisieren, wem die Gruppe hohen Status zusprach und wem nicht. Hoher Status verschaffte den Zugang zu den besten Nahrungsmitteln, garantierte den Schutz der Gruppe. Wer hohen Status innehatte, konnte auf sich stolz sein. Somit sind die Gegenbegriffe von Scham wohl Stolz oder Würde. Wer geringen Status hatte, stand am Rande – und musste sich schämen. Damit ist Scham die soziale Emotion schlechthin. Und direkt mit sozialer Kontrolle, mit Über- und Unterordnung in einer Gruppe verknüpft.

Wie sich eine Kultur der Scham zeigt

Die Jugend ist eine Zeit, in der wir besonders sensibel sind für Erlebnisse von Scham: wie man selbst oder andere den Körper bewerten, wie stark oder schön man gesehen wird oder sich selbst sieht, wie Eltern mit den eigenen Autonomiebestrebungen umgehen. All das hält eine Fülle an Gelegenheiten für dieses unangenehme Gefühl bereit. Das prägt sich ein. Mit den Jahren wachsen die Möglichkeiten, Scham zu vermeiden.

Das hat positive und negative Effekte. Im Guten hat Scham oder mehr noch die Angst vor Scham durchaus eine zivilisierende Wirkung: Höflichkeit und Sensibilität im Umgang sind kulturelle Errungenschaften. Sie verdanken sich dem Bestreben, sich selbst und anderen Scham und die mit ihr verbundene Aggression zu ersparen. Das verringert gewalttägige Konflikte und stabilisiert die Struktur einer Gesellschaft. Auch in Organisationen wäre der ungefilterte Ausdruck von Gefühlen auf Dauer behindernd für die Arbeit.

Aber alles hat zwei Seiten. Die hemmende Wirkung von Scham-Angst ist, dass vieles nicht mehr ausgedrückt wird, was besser als das adressiert würde, was es ist: Scham, Ärger, Frust usw. Wenn man versucht, Scham und andere Emotionen zu unterdrücken, zeigen sie sich dennoch über Umwege im Verhalten und in den Beziehungen der Belegschaft. Leider in Formen, die im Großen und Ganzen zum Schaden des betrieblichen Klimas und der Kultur der Organisation sind.

Negative Folgen von Scham in Organisationen

  • Perfektionismus
  • Hinter jemandes Rücken tratschen
  • Sich ständig mit anderen vergleichen, Konkurrenz
  • Selbstwert von Leistung abhängig machen
  • Wegentscheiden oder Abwerten von Problemen
  • Suche nach dem Schuldigen
  • Anderen aus dem Weg gehen
  • Keine Fragen stellen, kein kritisches Feedback
  • Diskriminierung und Belästigung
  • Mobbing

Die Funktion von Scham in Organisationen

In unserer Arbeit als Berater beschäftigen wir uns damit, wie Organisationen sich entwickeln, und dabei achten wir besonders genau auf die Kultur einer Organisation. Nur steht nirgendwo geschrieben, wie die Kultur ist. Sie ist ein wenig verborgen, schwer bestimmbar und wird mit Werten, mit Gefühlen und mit informellen Beziehungen assoziiert. Wir suchen nach diesen informellen Mustern, nach denen Organisationen funktionieren. Und diese beinhalten immer eine Komponente von Scham und Status.

Scham reguliert Präferenzen in der Organisation. Wenn ich Scham vermeiden will, muss ich mich um Anerkennung der anderen bemühen. Wer nicht ausgeschlossen werden will, tut gut daran, sich danach zu orientieren, was Status bringt. Was Status bringt deckt sich aber nicht immer mit den formellen Zielen der Organisation.

Zum Beispiel…

So kann es eine implizite Erwartung sein, dass neue Projektleiter ins kalte Wasser geworfen werden und sich dort bewähren müssen. Wenn sie das auf eigene Faust und heldenhaft bewältigt haben, bekommen sie Anerkennung. Wer nicht diesen Weg durch die Instanzen der Organisation genommen hat, hat zwar Einfluss durch seine formelle Position aber nicht durch informelle Anerkennung.

Solche Präferenzen können erstaunlich stabil sein. Und das muss nicht wundern. Denn wenn, um bei dem Beispiel zu bleiben, der heldenhafte Sprung ins kalte Wasser Status bringt, dann wird das zu einem Muster im Projektmanagement. Und die Menschen investieren in genau die Fähigkeiten, die für dieses Muster Erfolg versprechen.

Und dann kommt eine veränderungswillige Führungskraft und verlangt: „Wir führen jetzt Prozesse ein, an die ihr euch halten müsst. Ihr sollt über euer Tun Berichte abliefern. Ihr sollt mit anderen kooperieren und nicht auf eigene Faust losziehen. Ihr sollt euer Wissen teilen.“ Diese Führungskraft wird keine Begeisterung ernten bei jenen, die ihre ganze Karriere darauf ausgerichtet haben, als einsame Wölfe das Rudel zu retten.

Ganz im Gegenteil: Die heldenhaften Projektleiter müssten fürchten, dass ihre lange eingeübten Fähigkeiten nicht mehr so viel wert sind. Da gibt es nun andere, die die neuen Arbeitsweisen besser draufhaben: jüngere oder Neuankömmlinge im Unternehmen.

Dieses Beispiel ließe sich für andere größeren Organisationsveränderungen fortspinnen: Am Weg vom Start-up zu einer reiferen Organisation, beim Abbau von Prozessen zugunsten von mehr Eigenverantwortung, bei der Einführung neuer IT-Tools. Immer wird es Menschen geben, die ihren Status, ihren Selbstwert und ihre Wirksamkeit auf Fähigkeiten und Werten aufbauen, die dann nicht mehr (so sehr) gebraucht werden. Die Sorge haben, ihren Platz in der Mitte der Organisation zu verlieren und an den Rand gedrängt zu werden. Und die verständlicherweise Angst vor der damit verbundenen Abwertung und Scham haben.

Das sind dann die Leute, die mit verschränkten Armen und finsterem Blick im Meeting sitzen und es vorziehen zu schweigen – oder gar nicht erscheinen.

Wenig hilfreiche Reaktionen

Über Gefühle zu reden ist an sich schwer, selbst bei positiven. Negative Gefühle sind peinlich, am peinlichsten die Scham selbst. Scham ist in so gut wie allen Organisationen tabuisiert. Jedes Wort erstirbt in einer Gruppe, wenn du fragst, wer im Raum schon mal Scham erlebt hat. Kein Wunder: Rückt man damit heraus, riskiert man seinen Ruf, seinen Status und seine Führungsrolle gleich mit.

Darum sind gängige Reaktionen auf Scham eher:

  • Unterdrücken: man versucht bei sich die Angst vor der Scham oder die Scham selbst gar nicht wahrzunehmen und würde beides auch jederzeit bereitwillig leugnen. Mit einem gravierenden Nachteil: Man kann nicht nur ein Gefühl unterdrücken. In Organisationen, die mit Angst und Scham nicht offen umgehen können, erleben Menschen auch wenig echte Begeisterung und Engagement.
  • Wegentscheiden: Komplexe Probleme sind mit Unsicherheit verbunden. Wer sich unsicher fühlt, dabei aber nicht ertappt werden möchte, kann das Problem wegentscheiden, mit vorschnellen Lösungen verschieben. Mit dem Nachteil, dass das Problem deswegen dennoch nicht verschwindet. Komplexe Probleme haben die Tendenz, in anderer Form wiederzukehren.
  • Perfektionismus: Wer erfahren hat, dass man für Fehler geächtet wird, geht keine Risiken mehr ein, sondern perfektioniert so lange, bis Fehler ausgeschlossen sind. Mit dem Nachteil, dass Innovationen zu spät kommen, nicht ausreichend abgestimmt sind und als Papiertiger in der Schublade landen.
  • Isolation: Die häufigste Reaktion auf Scham ist wohl der Kontaktabbruch. Scham ist die Angst vor der Isolation. Und ironischerweise löst Scham-Angst genau das aus: Wenn ich fürchten muss in einer Arbeitsbeziehung beschämt zu werden, werde ich den Kontakt reduzieren. So gehen Kollegen auf Distanz. Die Kommunikation im Team bricht ab.

Eine Kultur der kreativen Kollaboration

Diese Reaktionen auf Scham oder Scham-Angst wirken sich besonders stark auf Kreativität in einer Organisation aus. Gemeinsames Gestalten und Entwickeln brauchen psychologische Sicherheit, Freiheit von der Angst beschämt zu werden. Wie das gehen kann? Dazu haben Christine und ich uns in einem TED-Talk Gedanken gemacht:

Eine Frage der Haltung

Wenn hier nun ein paar Punkte genannt werden, die helfen können, schamvolle Kulturen zu vermeiden, so sei gesagt: Das sind keine Tricks, keine Techniken, keine Management-Lösungen. Diese Punkte machen nur Sinn auf Basis einer Haltung, die den anderen in Kants Sinne immer als Zweck und nie bloß als Mittel betrachtet.

Das ist nicht einfach. Denn das Prinzip der Organisation baut ja darauf, dass wir uns per Arbeitsvertrag als Ressource, als Werkzeug, also als Mittel der Organisation zur Verfügung stellen. Und doch kommen wir nie nur als Werkzeug, sondern immer auch als Menschen mit unseren eigenen Erfahrungen, Empfindungen und Wünschen und wollen als solche gesehen und behandelt werden.

Wer das begreift, für den werden Techniken im Umgang mit Emotionen wie Scham oder Stolz an Bedeutung verlieren.

Eine Kultur der Würde

Verbindung: Scham blüht in der Isolation. Je stärker die Verbindung der Menschen, umso leichter ist es über heikle Themen zu sprechen. Übe also Feedback zu geben und unterstütze dabei, dass darüber gesprochen wird, wie sich das Feedback anfühlt. Und umgekehrt: Je offener wir sprechen können, umso fester wird die Verbindung.

Mitgestalten: Menschen, die fürchten Scham zu erleben, fühlen sich oft als Opfer der Umstände. Aggression und Wut in dieser Situation können als Versuch verstanden werden, aus einer schamvollen Empfindung auszubrechen und sich wieder als wirksam zu erleben. Lass Betroffene an den Veränderungen mitgestalten, binde ein, informiere. Wer sich als wirksam erlebt, wird auch mehr Selbstachtung und weniger Scham erleben.

Dankbarkeit: Wir leben in einer Zeit, in der wir unseren Selbstwert sehr stark mit der Arbeit verknüpfen. Wer sich bei der Arbeit durch seine Leistung einen Status erarbeitet hat, leidet im Selbstwert, wenn dieser Status in Gefahr ist. Drücke deine Dankbarkeit aus, für das, was andere geleistet haben und zeige ihnen deine Wertschätzung dafür. Wenn die Menschen spüren, dass deine Dankbarkeit von Herzen kommt, wird es ihnen vielleicht eher gelingen, sich von den erfolgreichen Praktiken der Vergangenheit zu verabschieden.

Experimentieren: Wir haben früher viel Improvisationstheater gespielt. Da galt die Regel: „Lust am Scheitern“. Ermutige zum Spielen, zum Experimentieren und dazu, Fehler zu machen. Und schau dir den fantastischen TED-Talk des Impro-Lehrers Dave Morris dazu an. Lust am Scheitern hat einen großen Vorteil: Die Leute rücken früher mit ihren Ideen heraus und die Fallhöhe, wenn mal etwas schiefgeht, ist nicht so groß. Da rappelt man sich schnell wieder auf.

Theater hilft

Drüber reden: Man kommt nicht drum herum, direkt und offen und ehrlich über die mit Scham verknüpften Erfahrungen zu sprechen. Das braucht viel Mut und ein offenes Herz. Und wenn du das als Führungskraft initiieren willst, musst du den ersten Schritt tun und als Vorbild vorangehen.

Fröhlicher Tiefstatus

Als ich damals mit 28 vor dieser Gruppe stand, erinnerte ich mich ans Improtheater. Einer meiner Impro-Lehrer, Keith Johnstone, hatte mir vor einer Show den Rat gegeben: Mach Fehler und freu dich darüber. Fröhlichen Tiefstatus nannte er das. Also verzichtete ich darauf, den arrivierten Berater zu markieren. Und das tat mir und der Gruppe gut. Es wurde gespielt und geblödelt, Statusstreben losgelassen und dann wirklich ernsthaft und offen über heikle Themen gesprochen.

Und jetzt du!

So, das wars. Ein sehr persönliches Thema. Wie geht es dir damit? Wir würden uns freuen, zu hören, was dich zu diesem Thema bewegt. Schreib uns ein paar Zeilen!

Komm ins Rudl! Flieg mit im Schwarm!